Die Feuerzangenbowle

 

Aus dem Orginaltext von Heinrich Spoerl:

Die Dampfmaschin

Dafür entschädigte allerdings der Bömmel. Wie er richtig hieß, wußte kein Mensch; man hätte schon im Jahresbericht nachlesen müssen. Es war schon lange her, daß Bömmel von seiner niederrheinischen Heimat nach Babenberg verschlagen wurde. Inzwischen war er alt geworden, trug immer noch denselben schwarzen Rock, und sein Bart, der schwarz und krollig war wie Matrazenfüllung, begann sich leise zu versilbert. Seinen niederrheinischen Dialekt hatte er beibehalten, gewissermaßen als einziges Andenken an seine Heimat. Bömmel gab Physik. Aber er hielt nicht viel von verstiegener Wissenschaft, er war mehr für einfache, plastische Begriffe und für eine volkstümliche Darstellung. Außerdem hatte er leidende Füße und pflegte sich zu Beginn jeder Stunde hinter dem Katheder die Schuhe auszuziehen. Das hatte er schon seit unvordenklicher Zeit so gemacht. Man hatte sich daran gewöhnt und hielt es beinahe für selbstverständlich. Nur Hans wunderte sich das erste Mal darüber. Er wunderte sich noch mehr über die Lehrmethode.

"Wo simmer denn dran? Aha, heute krieje mer de Dampfmaschin. Also, wat is en Dampfmaschin? Da stelle mehr uns janz dumm. Und da sage mer so: En Dampfmaschin, dat is ene jroße schwarze Raum, der hat hinten un vorn e Loch. Dat eine Loch, dat is de Feuerung. Und dat andere Loch, dat krieje mer später."

Hans Pfeiffer konnte es nicht begreifen, daß die Klasse nicht losbrüllte. Auch daran war man offenbar gewöhnt. Der Physiker aber fuhr fort:

"Und wenn die jroße schwarze Ruam Räder hat, dann es et en Lokomotiv. Vielleicht aber auch ein Lokomobil."

... Inzwischen wurden die Einzelheiten der Dampfmaschine erklärt.

"Wat is e Ventil? Da stelle mer uns wieder janz dumm. E Ventil is, wo wat erein jeht, aber sein Lebjottstag nix erauskömmt."

 

Jäder nor einen wenzigen Schlock

Am Babenberger Gymnasium wurde wenig Gewicht auf Chemie gelegt. Die alten Grieche, anerkannt humanistisch gebildete Leute, waren gänzlich ohne Chemie ausgekommen. Und überdies war Chemie mit Gestank verknüpft. Dennoch erfüllte Schnauz seine Pflicht. Von Rechts wegen hatte er nicht nötig, seinen selbst fabrizierten Heidelbeerwein mitzubringen und seine Schüler davon kosten zu lassen. Aber er wollte ihnen zeigen, daß Chemie nicht ohne praktische Bedeutung ist. Auch erhoffte er seinen Zuwachs an Autorität, wenn sich die Schüler davon überzeugten, daß er nicht nur prächtig zu unterrichten, sondern auch einen Heidelbeerwein herzustellen imstande sei - einen Heidelbeerwein, der von einem unverschnittenen Burgunder schwer zu unterscheiden sei. Wenigstens nach Ansicht des Herrn Professor Crey.

Inzwischen war der große Augenblick gekommen. Die Primaner marschierten im Gänsemarsch am Katheder vorbei und empfingen ihren Probeschluck. Dann gingen sie in die Bänke zurück. Aber eine gewisse Unruhe blieb, ein merkwürdiges Raunen und Tuscheln, weit über das übliche Maß hinaus, und nichts Gutes verheißend. Auch der Schnauz wurde unruhig.

"Pfeiffer, Sie gäben nicht acht. Wederholen Sie: Was verstäht man onter alkoholischer Gärung?"

Pfeiffer erhob sich. Jetzt mußte es losgehen.

"Also die alkoholische Gärung - oder vielmehr die Gärung des Alkohols - sie erzeugt Alkohol - das heißt also, der Alkohol erzeugt Gärung - sogenannte alkoholische Gärung -"

"Pfeiffer, Sie faseln."

"Der gärende Alkohol fängt an zu faseln - fänft an in faselnde Gärung überzugehen - und so entsteht Heidelbeerfusel - Heidelbeerfasel"

"Was ist los met Ehnen?"

"Nichts, Herr Professor. Und wenn dann der Heidelbeerfusel beziehungsweise Alkohol- oder vielmehr der Heidelbeerkohl - ich meine: der gärende Altheidelbeerkohl-"

"Est Ehnen nicht wohl? - Oh, dann sätzen Sie sech. Hosemann, fahren Sie fort."

Und Hosemann mit todernstem Gesciht:

"Mann kakakann den Wein mit A-a - - - A-a - - ich kokomme nicht auf das Wort."

"Seit wann stottern Sä?"

"Ich ststotottere doch gagarnicht. Aaaber mir drecht sich a-a-alles vor den Au-au-augen!"

"Oh, Hosemann, gähen Sä doch mal an de fresche Loft."

Luck hat den Finger gehoben.

"Ich verstehe das gar nicht. Lock, wollen Sä mal fortfahren?"

Luck steht auf, macht den Mund auf und zu, würgt und bringt keine Silbe über die Lippen.

"Lock, ist Ehnen denn auch öbel?

"Sehr - -"

Professor Crey ist fassungslos. Er betupft sich mit seinem großen Taschentuch noch häufiger als sonst die Stirn und wird zusehends bleicher.

"Est sonst noch wem öbel?

Der ganzen Klasse ist öbel. Man sieht es ihnen an. Die einen können nicht mehr gerade stehen, die andern lallen oder stöhnen oder grinsen blöde in die Luft. Die Dilettanten begnügen sich damit, den Kopf vornüber aufs Pult fallen zulassen. Rudi Knebel aber liefert ein Meisterstück. Er torkelt auf den Professor zu, fällt ihm um den Hals und johlt: 

"Der Wein - hupp - ist famos. Mein liebes Schnäuzchen - hupp - den saufen wir dir aus!"

Jetzt ist die Klasse nicht mehr zu halten. Ein fünfzehnstimmiges Plärren und Johlen, Grunzen und Brüllen setzt ein. Und fünfzehn Jungens torkeln und kugeln übereinander und durcheinander, daß man nicht mehr weiß, was oben und unten ist.

Dem Professor läuft es eiskalt über den Rücken. Was war mit dem Heidelbeerwein? Sollte sich infolge wilder Gärung vielleicht Methylalkohol gebildet haben? Oder ein sonstiges Gift? Drohende Formeln kreisen in seinem Hirn, überschlagen sich und zerfallen. In diesen wenigen Minuten büßt er für die spärlichen Sünden seines sechsundvierzigjährigen Lebens.

Hans Pfeiffer konnte es kaum noch mit ansehen und schloß die Augen. Aber da hat sich Professor Crey mit seiner letzten Energie zusammengerappelt und trifft die erforderlichen Anordnungen. Die ganze Klasse soll sich sofort an die frische Luft begeben, so leise und unauffällig wie möglich. Nicht auf den Schulhof, sondern auf die Straße, vielleicht etwas die Ecke herum, und dann sollen sie tief atmen und ganz ruhig bleiben. Oder sich irgendwo eine starke Tasse Kaffee geben lassen. - Zu diesem Behufe erhielt Hans Pfeiffer, der am wenigsten angegriffen schien, ein Fünfmarkstück.

Und mit bewegten Worten bat er seine lieben Primaner, sich recht gut zu erholen und nach der Pause, in der Stunde beim Herrn Direktor, sich nichts anmerken zu lassen. Die Klasse gelobte es und torkelte davon.

Auf der Straße, um die Ecke herum, wurde zunächst der Betriebsfonds von fünf Mark durch freiwillige Spenden auf elf Mark fünfundsiebzig vergrößert. Diese Summe reicht aus, um einen zwar etwas eiligen, aber intensiven Frühschoppen zu veranstalten. Und es gar nicht ausgeschlossen, daß bei einigen der Mitwirkenden der gefälschte Schwips bis zu einem gewissen Grade durch einen echten ersetzt wurde.

Als nach der Pause Direktor Knauer in die Oberprima einmarschierte, umfing in Totenstille. Eine Weile dachte er, er habe sich verlaufen. Vor seinen Augen entrollte sich ein Bild menschlichen Jammers. Da hingen seine stämmigen Primaner wie de Mehlsäcke zwischen den Bänken. Einige schienen zu schlafen andere glotzten ihn stumpfsinnig an oder grinsten läppisch vor sich hin; und keiner war aufgestanden. Keiner rührt sich. Knauer vergegenwärtigt sich mit Schrecken, daß in Indien durchschnittlich 315 490 Menschen an Cholera, 228 023 an Pest und rund fünf Millionen an Malaria, Influenza und Typhus hinweggerafft werden.

"Husemann, was ist los?"

"Tralala."

"Um Himmels willen - habt ihr was Schlechtes gegessen?"

"Dideldum."

"Im Gegenteil."

"Wir haben was Gutes getrunken, Herr Direktor. Hali und Hallo!"

"Jawohl, Herr Direktor, wir haben was - wir haben was - wir haben was getru-unken."

"Was habt ihr getrunken?"

"Als gute Deutsche haben wir - hupp - guten deutschen Wein - hupp - getrunken."

"Herr Direktor, darf ich mal raus?"

"Meinetwegen. - Aber trotzdem will ich wissen, wer euch den Wein gegeben hat."

"Den haben wir bei Professor Crey trinken müssen. Oh, mir ist so schlecht. Darf ich raus?"

Allen war so schlecht. Alle wollten raus. Ackermann, der mit den vielen Ehrenämtern, muß Herrn Professor Crey holen.

Crey saß im Konferenzzimmer und korrigierte Hefte. Oder tat wenigstens so. In Wirklichkeit schwitzte er Blut. Er bringt die Literflasche mit Heidelbeerwein mit und beteuert in einem fort 

"Jeder nor einen wenzigen Schlock." 

Und ob der Herr Direktor nicht einmal versuchen wolle? - Der Herr Direktor wehrt mit beiden Händen und wendet sich zur Klasse. 

"Ihr geht sofort nach Hause und legt euch zu Bett. Es wird wohl nicht so schlimm werden. Soweit erforderlich, laßt ihr den Arzt kommen; die Rechnungen könnt ihr an die schule schicken."

Jetzt war es erreicht. Leise und hastig schlichen die Bengels zur Tür hinaus, mit einem unheimlichen Gefühl im Nacken. Erst auf der Straße, in respektvoller Entfernung von der Lehranstalt, ließ man das Jubelgeheul vom Stapel. 

In ihrer Begeisterung merkten sie nicht einmal, daß Hans Pfeiffer kehrtgemacht und sich wieder hinaufgeschlichen hatte. Oben stand er vor der Klassentür und belauschte das Duett zwischen dem Direktor und Schnauz. keineswegs aus Schadensfreude oder aus literarischen Beweggründen. Danach war ihm gar nicht zumute. Nein, das Gewissen klopfte ihm. Und es tat recht daran. Hans Pfeiffer konnte nicht alles verstehen. Er hörte nur, daß die Stimme von Professor Crey immer kleiner und die des Direktors immer mächtiger wurde.

"Herr Kollege, Sie haben meine Oberprima vergiftet."

"Ich wollte nur die alkoholische Gärung -"

"Meine schöne Oberprima vergiftet!"

"Jeder nor einen wenzigen Schlock!" 

"Jawohl, vergiftet sage ich. Zunächst erwarte ich Ihren schriftlichen Bericht, Herr Kollege. Das weitere wird sich -"

Da ist Hans Pfeiffer im Zimmer. Ihm ist jetzt wirklich primanerhaft zumute. Primanerhaft bis in die Knochen. Er braucht nicht mehr zu schauspielern. Er hat unendliches Mitleid mit dem armen Schnauz und ist fast dem Heulen nahe.

"Pfeiffer, was suchen Sie hier?"

"Ich wollte um Verzeihung bitten?"

"Wieso um Verzeihung?"

"Ja, da sind auch die fünf Mark weider."

"Welche fünf Mark?"

"Können Sie mir herausgeben?"

Der Direktor fixierte ihn entgeistert. "Sehen Sie, Herr Kollege, er redet Irre."

"Ich rede gar nicht irre. Aber das haben wir doch alles nur so gemacht. Wegen der griechischen Klassenarbeit um elf. Und es soll auch ganz bestimmt nicht wieder vorkommen."

Es dauerte eine geraume Weile, bis die beiden Herren begriffen hatten. Und danach dauerte es eine geraume Weile, bis sie begriffen, daß sie begriffen hatten. Und da schauten sie sich hilflos an. Das war nicht nicht dagewesen. Das war nicht im Lehrplan vorgesehen. Und darum überlegten sie, wie sie sich als Pädagogen jetzt zu benehmen hätten. Ob man den Verbrecher mit dem ganzen Vokabularium des höchsten pädagogischen Zornes anhauchen oder ihn mit grenzenloser Verachtung strafen sollte. Oder wie sonst die außergewöhnliche Missbilligung angemessen zum Ausdruck zu bringen sei. Infolgedessen geschah zunächst nichts.

Schließlich fand Direktor Knauer - dafür war er Direktor - das erlösende Wort:

"Pfeiffer, holen sie sofort die Klasse zurück."

Aber die war längst über alle Berge.

 

Als Quelle diente d "Heinrich Spoerl's gesammelte Werke" erschienen im Piper-Verlag 1965

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